Als Hochsensible in einer viel zu lauten Welt
Warum ich manchmal immernoch denke, dass ich mir meine Sensibilität einbilde. Und was du tun kannst, wenn dir alles zu laut und bunt ist. Oder nicht echt genug.
Ich empfinde.
Ich empfinde viel.
Und ich empfinde ständig.
Ich sehe Farben und ich höre Klänge, ich weine nach jedem Arthousefilm zwanzig Minuten lang. Ich müsste mich eigentlich erholen, nach jeder Tramfahrt, und all die Biografien, all die Energien, all die Stimmen und Gerüche und Gefühle dieser fremden Menschen von mir abschütteln.
Ich müsste mich vielleicht mal dazu entscheiden, in Zukunft wirklich, wirklich nie! wieder an einer Tramschiene zu wohnen. Und ich müsste endlich einmal akzeptieren, dass es einen Unterschied macht, ob ein Restaurant die Wände schön gestrichen hat oder im falschen Grundton. Weil ich finde, Cremefarben ist ein ganz anderer Ton als Elfenbeinweiss. Plastikblumen tun mir so weh im Herz wie anderen Menschen eine Trennung.
Ich bin manchmal so detailorientiert und sensibel, dass ich nicht mehr weiss, ob ich mir das alles bloss einbilde. Ob das einfach neurotisch ist und dramatisch, ob es mir am Ende dann doch bloss um Aufmerksamkeit geht oder darum, dass ich einfach mehr Yoga machen müsste und die Augen öfter schliessen, dann wäre die Welt doch einfach erträglich - und fertig.
Ich denke zu viel und ich fühle ständig, was andere aussenden. Ich bin innerlich ganz laut, und manchmal auch äusserlich. Und dann wollte ich früher dreimal den Tisch wechseln, im Restaurant, und litt einen halben Tag, wenn die Pasta zu lange im Wasser war, und der Pullover aus Merino juckte so stark, dass ich weinte.
Und die Leute fanden: Anna, du bist einfach bloss anstrengend.
Ist doch egal, wie die Pasta grad ist.
Ist doch egal, dass da neben dir einer lauter spricht.
Ist doch egal, dass das Kunstlicht ist und kein warmes.
Ist doch egal, dass das Fenster dort drüben auf ist, die Leute brauchen nunmal frische Luft.
Also habe ich mich geschämt. Wurde wütend. Habe viel zu oft viel zu schnell reagiert. Habe mich missverstanden gefühlt. Verletzt. Ungesehen. Gekränkt. Alleine. Anders. Ich bin raus, mit meiner Wut, und habe versucht, Dinge zu kontrollieren.
Ich versuchte, mich mit der “klassischen Variante” von Hochsensibilität anzufreunden, die in den meisten Büchern und Artikeln skizziert wird. Mit der Skizze einer introvertierten Person, die gerne Aquarell malt und in Gruppen nur selten was sagt. Doch wo soll ich da reinpassen? Ich rede viel. Ich trete auf Bühnen auf. Ich esse Schnitzel mit viel Mayonnaise und höre manchmal so laut Musik, dass mein Iphone mich vor einem Hörschaden warnt.
Wie passt das alles zusammen?
Es passt zusammen, weil es Hochsensibilität gibt. Und ADHS. Und Skalen. Sensibilitätsskalen und Empfindsamkeitsskalen und Intro- und Flexi- und Extrovertiertheit und Trauma und Persönlichkeit und Umwelteinflüsse und kulturelle Gepflogenheiten.
Und doch. Und doch wollte ein Teil von mir nicht glauben, dass ich mir das alles nicht bloss einbilde. Dass ich sensibler bin als andere es sind, und dass ich ein Recht darauf habe, damit Raum einzunehmen.
Ich wollte nicht anders sein als die meisten Menschen um mich herum. Ich wollte nicht mehr wahrnehmen als andere. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass mich Dinge energetisch so belasten, dass ein grosser Teil meiner täglichen Arbeit darin bestehen müsste, mich von Dingen und Momenten zu erholen, die für andere gar nicht erst existieren, beziehungsweise, nicht wahrnehmbar sind, oder, noch schlimmer: welche sie regulieren können. Einfach so abschütteln. Weil das Gehirn findet: Ja, bisschen unangenehm, aber vergessen wir jetzt, weil, nicht prioritär.
Was soll ich denn tun? Vier Stunden am Tag arbeiten und viermal am Tag ein Nickerchen machen, weil ich mich von sensorischen Eindrücken erholen muss?
Es würden mich alle für verrückt halten.
Also machte ich keine Nickerchen. Und hörte auf, ständig rumzumeckern, weil ein Fenster offen war.
Meinen Beziehungen hat es geholfen.
Mir selbst nur bedingt. Weil die Anstrengung leider nicht weggeht. Weil Hochsensibilität ein Persönlichkeitsmerkmal ist. Sie lässt sich nicht wegtrainieren.
Dieser Newsletter ist für euch alle, die spüren, was ihr spürt, und es gerne weghätten.
Für alle, die ihr traurig werdet, wenn ihr empfindet, was andere nicht empfinden. Für euch alle, die mit Wut und Groll um euch schlagen, weil ihr euch nicht verstanden fühlt. Oder euch zurückziehen, aus einer Realität, die in ihrer Intensität manchmal unerträglich scheint, wo andere bloss mit den Achseln zucken. Wo ihr immer wieder denkt: Spinne ich? Bilde ich mir das alles bloss ein? Was ist bloss los mit mir.
Eine Freundin von mir, die ADHS hat und hochsensibel ist, sagte mir kürzlich: Es ist besser geworden. Das alles, die grossen Gefühle, sie sind erträglicher, schöner, sanfter geworden, seit ich verstanden habe, dass ich annehmen muss, wer ich bin. Dass ich wirklich mehr empfinde, anders eben, und ich ein Recht darauf habe. Dass es mich zwar Energie kostet, aufzustehen und darum zu bitten, die Musik leiser zu drehen, weil da immer auch dieser Moment des Gegenübers ist, dieses Unverständnis in seinem Blick.
Doch es ist dieses Einstehen für deine eigene Realität, deine eigene Lebensempfindung, die dir Boden geben wird, für all die Gerüche, die Geräusche, die Gefühle, die Energien.
Wenn du anerkennen kannst, dass diese unkonkrete, diffuse, feinstoffliche Arbeit, dieses schwammige Wahrnehmen, real ist. Und diese intensive Wahrnehmung Verarbeitungs-Arbeit bedeutet, für dein System. Dass das Arbeit ist, die aber in keine Tabelle eingetragen werden kann. Die niemand anerkennen wird ausser du. Weil du sie wahrnimmst. Du musst allen, die das nicht sehen und spüren und wahrnehmen können, verzeihen können. Und anfangen, dazu zu stehen und auszusprechen, was du spürst, brauchst und leben willst.
Hochsensbile werden in vielen Büchern als die Introvertierten, Leisen, Überforderten portraitiert. Als Zerbrechliche in einer viel zu lauten, von Extrovertierten dominierten Welt. Das mag stimmen. Doch es wird sich nichts ändern, wenn wir uns bloss zurückziehen. Wir müssen Pausen salonfähig machen. Wir dürfen laut aussprechen, dass wir Energien intensiv wahrnehmen, vieles beobachten, und oft mit unserer Intuition richtig liegen, die für andere so scheint, als würden wir einfach mal drauflosraten. Wir dürfen Sensibilität einfordern. Mehr stille Orte in der Öffentlichkeit. Mehr Verständnis für sensorische Überreizung. Wir dürfen beginnen, offen darüber zu sprechen, dass wir Ohrstöpsel brauchen in Restaurants oder Filme nicht schauen können, weil sie uns zu nahe gehen. Wir dürfen Oasen bauen und alles wild miteinander vermischen: Viele Menschen, ruhige Ecken, lustige Abende, tanzen auf den Tischen. Und das gemeinsame Schweigen danach.
Wir dürfen damit beginnen, unsere Liebe, unsere ganze Buntheit, all die Farben und Klänge, die wir sehen, empfinden und erschaffen, mit der Welt zu teilen. Auf unsere Art. Mal laut und mal leise. Mal zerbrechlich und mal forsch.
Ich bin hier, um dich daran zu erinnern: Wir sind viele.
xoxo, Anna
Wie geht es dir, mit deiner Sensibilität? Liebst du sie? Schämst du dich für sie? Siehst du sie als Stärke? Als Makel? Als Notwendigkeit, in dieser Welt? Schreib mir.
Mehr zum Thema Hochsensiblität findest du beispielsweise hier.
Buchtipps: Hochsensibel, was tun? oder beispielsweise The highly sensitive Person.
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