Ich habe ihn vor ein paar Jahren gelesen, diesen Satz, in einem Interview, ich weiss nichtmal mehr, wer den Satz gesagt hat, es ging um Traumaforschung und darum, warum wir tun, was wir tun, und wozu wir berufen sind. Der Satz lautete: Oft ist unser Trauma gleichzeitig unsere grösste Gabe.
Seither begegnet mir dieses Muster in vielen Podcasts, Interviews, Biografien. Wenn man Menschen, die Grosses geschafft haben, fragt, warum sie Menschen im Krieg retten, warum sie schneller rennen als alle anderen, warum sie können, was sie können, verwebt sich ihr Talent oft mit einer sehr schmerzlichen, frühen Erfahrung.
Eine der Ablehnung. Der Angst. Der Ohnmacht.
Das ist nur logisch, denn: Wenn wir Schreckliches erfahren, haben wir drei Möglichkeiten: flight, fight, freeze. Trauma entsteht dann, wenn unser System sich nicht befreien kann, wenn es die Situation nicht wirklich bewältigen kann, wenn unser Nervensystem in einer Art Schockzustand verharrt, weil das, was uns widerfährt, grösser ist als das, was wir verarbeiten können.
Dieser Schock sitzt in unserem Körper und unserem System fest, über Jahre, Jahrzehnte oft. Dann treffen wir unbewusst eine Entscheidung: Nie wieder. Nie wieder will ich das fühlen, nie wieder will ich das erleben.
Also lernen wir. Wir lernen schnell. Und wir lernen mit all unserer Kraft.
Trauma ist also im Grunde etwas existenziell Prägendes, es ist berechtigterweise negativ geframed, Trauma ist eine Wunde, und wir tun gut daran, hinzusehen und sie zu heilen. Nicht nur für uns selbst, sondern auch für unsere Umgebung, unsere Nachkommen, die Gesellschaft. Auch sind wir nicht bloss unser Trauma, und wir sind mehr als unsere Vergangenheit. Es geht nicht darum, sich ein Leben lang an seinem Trauma festzuhalten und damit alle seine Kompensationsstrategien zu entschuldigen, mit denen man sich selbst und anderen das Leben schwer macht.
Doch Trauma kann dir auch den Weg zeigen. Aus deinem Trauma hast du Kraft und Tugend geboren, setzt Dinge, die du aus deinem Trauma heraus gelernt hast, vielleicht täglich um.
Deine Wunde ist auch dein Schwert.
Meine Überempfindsamkeit gegenüber unsicherer Bindung und inkonsistentem Verhalten ist auch: meine grosse Beobachtungsgabe, die mich im Journalismus zu einer guten Reporterin gemacht hat. Meine Hochsensibilität macht mich auch zu einer sehr empathischen Person. Mein Sinn für Gerechtigkeit kommt aus meinen Erfahrungen der Ungerechtigkeit heraus. Mein Wunsch nach Verbundenheit und mein Einsatz für das Thema entstammt auch tiefgreifender Erfahrungen der Trennung.
Natürlich haben wir auch einen Charakter, sind auch positiv geprägt und beeinflusst.
Doch mich tröstet dieser Gedanke, dass Trauma und Begabung etwas miteinander zu tun haben. Das gibt meinem Trauma einen gewissen Sinn, und mir selbst schenkt dieser Gedanke Selbstwirksamkeit. Ich bin nicht bloss Opfer der Dinge, die mir widerfahren sind, sondern mein System hat daraus auch Kraft gezogen, neue Wege geformt, aus meinem Umgang mit Schwierigem auch Talent geboren.
Wenn du kurz darüber nachdenkst, über diesen Satz - oft ist unser Trauma gleichzeitig unsere grösste Gabe - trifft er auch auf dich zu?
Worin bist du wirklich gut?
Was ist dir wirklich wichtig?
Was treibt dich wirklich an?
Was musst und willst du in deinem Leben und der Gesellschaft wirklich ändern?
Und wo liegen die Wurzeln dieser Kraft?
Deine Ohnmacht und Verzweiflung, deine Verletzungen und deine Sehnsüchte liegen unglaublich nah beieinander. Verstehst du dein Trauma, verstehst du auch, wonach du strebst, was du ändern willst - und warum du so gut darin bist, gewisse Dinge zu fühlen, sie zu hinterfragen. Und sie damit auch ändern zu können.
Dein Trauma, so dunkel es auch ist, hat eine Seite, die im Licht steht.
Have a good week.
Anna
Ich schreibe diesen Newsletter mit viel Herzblut, wie alles andere, was ich in die Welt bringe. Unterstütze meine Arbeit mit einem Abo hier auf Substack oder schenke meine Gedanken und Kurse einem Menschen, den du liebst (oder gerade nicht).
Ich biete Coachings, Schreibkurse und Begleitung in mental health Themen und digitaler Achtsamkeit. Möchtest du mehr über mich und meine Arbeit erfahren, besuche mich virtuell auf www.anna-miller.ch oder auf Instagram.
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Gut beschrieben.
Aber am Ende ist jedes Trauma eine ENDscheidung.
Eine Grenze, die Du gewählt hast anzuerkennen. Und die Du jeden Tag loslassen kannst und darfst.
Und musst.
Wenn Du GRENZENLOS LEBEN möchtest ...