Hast du Angst vor dir und deinen inneren Abgründen? Gut so!
Wir alle tragen sie in uns: die red flags. Die Frage ist bloss: Erkennst du deine? Und was tust du, um sie zu ändern?
Die red flags, die roten Flaggen: Sie sind der Dating-Begriff der Stunde, toxisches Verhalten, eine Art Checkliste an no go’s, die uns, wenn wir sie erkennen, davor bewahren sollen, uns in den falschen Menschen zu verlieben.
Es gibt sie, diese red flags, und es ist sehr ratsam, genau in uns hinein zu spüren, wie dieser Mensch mit uns umgeht, wie er kommuniziert. Wie emotional sicher und verfügbar er ist. Wie sehr er über sich selbst lachen, Fehler eingestehen, ehrlich mit sich selbst sein kann. Wie sehr er Intimität aushält und seine Emitonen regulieren kann. Wie sehr er höflich und wertschätzend kommuniziert, auf Augenhöhe intim wird, sich verletzlich zeigen kann.
Über diese red flags wird auf Social Media gerade viel geteilt, und vieles richtet sich auch und vor allem an Frauen. Weil wir davon ausgehen, dass wir netter sind, devoter. Uns mehr gefallen lassen. Eher bereit sind, zurückzustecken, um zu gefallen, all diese Dinge, die innerhalb der patriarchalen Ordnung in uns gewachsen sind, über Jahrhunderte, und die wir nun langsam und mühsam abstreifen.
Red Flags und toxisches Verhalten können Hand in Hand gehen, sie können offen aggressiv oder gewalttätig sein oder subtil manipulierend, sie können von Menschen kommen, die eine narzisstische Persönlichkeitsstörung haben oder sonst gewalttätig und verrückt und gefährlich sind, aber sie kommen eben auch:
von dir.
Wenn wir an Grenzüberschreitungen denken, denken wir rasch in Extremen, wir denken in Schlägen, in Beleidigungen, in offensichtlichem Übergriff-Verhalten. Das ist real. Und das ist wichtig. Und das stimmt. Wir denken dabei auch oft an Männer, und das stimmt auch.
Aber da gibt es eine leisere, unsichtbarere, weil weniger Wellen schlagende und viel alltäglichere Seite der Geschichte: Die red flags sind auch in uns. In uns allen. In den leisesten, nettesten, anständigsten Menschen genauso wie in den sprudelnden, lauten, manchmal ruppigen. Wir sind vielleicht nicht diejenigen, die andere offen terrorisieren, sie einsperren, sie kontrollieren, sie ghosten, sie beleidigen. Aber wir alle sind unsicher. Wir alle tragen Verletzungen in uns. Und wir alle haben unsere Strategien, uns selbst zu retten und zu schützen. Auch auf Kosten des anderen.
Und dann schreien wir plötzlich in der Küche. Mauern und sprechen stundenlang nicht mehr miteinander. Reden plötzlich schlecht über unsere Arbeitskollegin, lachen über einen Witz, der sich nicht gehört. Ignorieren, dass jemand sich neben uns setzen will, schwindeln beim ersten Date. Schicken siebenminütige Sprachnachrichten, obwohl wir wissen, dass der andere gerade zu müde ist, um sie noch abzuhören. Melden uns plötzlich nicht mehr, weil wir nicht richtig Schluss machen können, oder lassen einen verletzenden Kommentar fallen, aus purem Neid.
Wir können in den allermeisten Fällen gar nicht anders, als auch mal ein verletzendes, grenzüberschreitendes oder den anderen oder uns selbst nicht schützendes Verhalten an den Tag zu legen. Weil das menschlich ist. Weil wir, als Gesellschaft, in unseren Familien, mit uns selbst, nur schwerlich und mühsam und oft ganz alleine mit Selbsthilferatgebern im Bett oder einmal wöchentlich in einer Privatsitzung Psychotherapie langsam herausschälen, wie wir funktionieren, warum wir tun, was wir tun, und wie wir lernen könnten, uns besser auszuhalten. Und uns sicherer zu verhalten. Zugewandter.
Wann denken wir denn schon von uns als Täter*innen? Wann denken wir über uns als Übergriffige nach? Oder sich Wegduckende, was genauso schädlich und verletzend sein kann, weil wir den anderen nicht schützen, seinen Hilferuf ignorieren?
Wir sind keine bösen Menschen, aber wir sind unsichere, hadernde, überforderte Menschen.
Menschen, deren Gefühle und Taten entgleisen.
Ich hatte viele solcher Momente, vor allem in meinen Beziehungen. War emotional nicht in der Lage, mich zu halten. Das Gegenüber wahrzunehmen. Genug Raum zu lassen. Die richtigen Worte zu finden. Über meine eigene Unsicherheit hinwegsteigen und sie nicht am anderen auslassen.
Das sind oft die schlimmsten Momente der Scham: Wenn man als erwachsener Mensch neben sich steht und sich fragt, wie es sein kann, dass man wieder so reagiert, so etwas sagt, so sehr nicht umgehen kann mit einer Situation, dass man selbst diese red flag-Aktionen durchführt, die man selbst doch nie in sein Leben lassen würde - geschweige denn, dulden, geschweige denn, nicht kritisieren. Aber genau in dieser Scham trennen wir uns. Von uns selbst und dem anderen.
Ich glaube, wir können diese Scham durchbrechen. Indem wir beginnen, über die red flags der anderen zu reden. Was er oder sie tut oder nicht tut, was uns unwohl, überfordert, gestresst, verletzt, vielleicht sogar bedroht zurücklässt. Aber eben auch über unsere eigenen. Auch wenn das unangenehm ist.
Wenn du ehrlich zu dir bist, und einen Moment lang aushalten kannst, dass es in Ordnung ist, dass auch du red flegs in dir hast:
Welches sind deine?
Wann überschreitest du Grenzen?
Wann ziehst du dich aus der Affäre, obwohl du präsent sein solltest?
Wann gibst du dem Anderen die Schuld, wenn du dich schlecht fühlst und ungenügend?
Vor welchem Abgrund in dir schämst du dich so sehr, dass du niemandem davon erzählen wollen würdest, weil du ganz genau weisst, wie schlimm er ist, auch für den anderen? Dass du weh tust, obwohl du das nicht willst?
Ich bin nicht hier, um dir zu sagen, dass es okay ist, sich grenzüberschreitend oder verletzend zu verhalten.
Aber ich bin hier, um dir zu sagen: Ich sehe dich. Du hast rote Flaggen in dir. Ich auch. Wir alle.
Und der Unterschied, der Heilung und Verbundenheit markiert, wird dieser sein, wenn du sagen kannst:
Ich kenne meine roten Flaggen. Ich schaue hin. Ich benenne sie. Ich will sie überwinden. Ich will sie ins Gute verwandeln. Ich will an ihnen arbeiten.
Ich nehme meine Verantwortung dafür wahr, dass ich anderen weh tue.
Ich bin mir sicher: Du wirst diese red flags in dir verwandeln. Sie werden weniger, kleiner, vielleicht gehen sie eines Tages ganz weg. Weil du hart gearbeitet hast, und viel erkannt. Dann werden die roten Flaggen im Aussen noch viel heller leuchten, und deine eigenen leuchten in anderen, neuen Farben. Dann hast du viel für dich getan. Und auch sehr viel für andere.
Also habe den Mut, deine eigenen red flags zum Thema zu machen. Sie offen zu legen. Scham gedeiht nämlich im Dunkeln, sagt Brené Brown. Mach dich auf den Weg. Das ist das Wichtigste. Das ist das, was zählt.
Indem du dich emotional sicherer machst für andere, machst du dich auch sicherer für dich selbst.
Mit viel Liebe,
Anna
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