Smartphone-Loops, Dopamin-Rausch und Mitternachts-Ängste
Warum dein Smartphone deine Gefühlswelt so durcheinanderbringt. Und es einfach mal Zeit ist, mitten in der Nacht zu weinen.
Manchmal liebe ich mein Handy sehr.
Wenn ich google maps brauche, natürlich. Wenn ich flat white suche, in einer neuen Stadt. Wenn ich einen schönen Moment festhalten will, mit meiner Kamera-App.
Aber auch dann, wenn ich mich selbst am meisten hasse.
Wenn ich vergessen will, wer ich bin.
Was ich gerade fühle.
Wie einsam ich mich gerade finde.
Wie sehr mein Leben grade anders sein sollte.
Und dann öffne ich irgendeine App. Erledige irgendeine digitale Aufgabe.
Weil es so viel einfacher ist, als zu fühlen, was da wäre, wenn ich nichts hätte, um es vergessen zu machen.
Wir lenken uns mit unseren Geräten ab von einer ganzen Reihe Emotionen wie Wut, Trauer, Angst, Müdigkeit. Gefühle, die entstehen, weil wir online verstörende Bilder sehen, aber auch Gefühle, die entstehen, weil das echte Leben mühsam, schwierig, kompliziert sein kann. Oder wir tief in uns drin grade Spannung nicht aushalten mögen, unsere Emotionen schlecht regulieren können, die Arbeit grad nicht schreiben wollen, die uns weiterbringen könnte, uns jetzt gerade aber mit der Angst konfrontiert, dass wir sie vielleicht nicht schaffen werden. Wir Menschen vermeiden gerne Unangenehmes. Das Smartphone in unserer Tasche ist dabei die ideale Ablenkung. Wir können damit jede Art von Unsicherheit und Angst temporär ausser Gefecht setzen, indem wir uns ein lustiges Video reinziehen oder einfach unaufhörlich arbeiten. Schon vor der Digitalisierung suchte der Mensch Zuflucht vor seinen Gefühlen in Dingen, die ihm ein gutes Gefühl gaben und ihn ablenkten. Mit Sex, Arbeit, Sport, Essen. In der Psychologie nennt man dieses Phänomen numbing - sich sädieren.
Die moderne Welt hat uns jedoch so viele Reize, so viele Möglichkeiten des Sädierens und künstlichen Aufputschens gegeben wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Ein Klick, und du kriegst alles, was du willst. Jede Form von Ablenkung, jede Form von Information. Wir können uns damit vor Unangenehmem schützen.
Und wir können damit gute Gefühle auslösen. Weil Instagram, Shopping-Apps oder Tinder das Glückshormon Dopamin ausschütten. Und wir lieben Dopamin. Es ist überall dort mit am Werk, wo der grosse Spass ruft. Es wird ausgeschüttet, wenn wir Achterbahn fahren, wenn wir Sex haben, wenn wir Pornos schauen, wenn wir beim Puzzeln ein Teilchen richtig einsetzen, wenn wir Burger mit Speck essen oder uns der Typ, von dem wir dachten, er melde sich nie wieder, dann doch eine Nachricht schreibt. Dopamin ist unsere Wunderwaffe gegen jegliche Verstimmung.
Dopamin wird von Natur aus ausgeschüttet. Schon vor der Digitalisierung. Bloss, dass wir durch das Digitale so stimuliert werden, wie noch nie in unserer Geschichte. Konstant. Dass wir durch Social-Media-Apps dazu konditioniert werden, immer wieder zu kommen, weil jeder Like einen kleinen Dopamin-Kick auslöst. Das Gehirn aber gewöhnt sich an Dopamin. Es braucht immer grössere Mengen davon, um noch etwas Neues zu empfinden. Es ist, als würdest du jeden Tag drei Burger essen, die versalzen sind: Du wirst an einem Apfel nichts mehr finden. Und nach drei Litern Cola wird dir Wasser so langweilig vorkommen wie ein Buch mit vielen Nebensätzen und einer langen Einleitung, nachdem du dir vier Stunden lang den Netflix-Hit Love is Blind reingezogen hast.
So wird alles, was du in die Hand nimmst und dich nicht ansatzweise so stimuliert wie ein Youtube-Video mit 30 Schnitten pro Minute, so fad und frustrierend, dass du es nicht mehr anfassen willst. Und gleichzeitig brauchst du Ablenkung von deinen Gefühlen, die ausser Rand und Band scheinen und unerträglich werden, sobald du mal ein paar Minuten mit dir alleine bist, ohne Ablenkung.
Ein Teufelskreis. Wir lenken uns ab von dem, was ist, um uns dann künstlich hochzupushen oder digital noch mehr negative Emotionen zu fühlen, die wir dann umso weniger aushalten, wenn wir mal offline gehen wollen, weil wir ja in diesem ganzen Wahnsinn nicht nachhaltig lernen, Gefühle auf nicht-digitale Art zu regulieren.
Fuck.
Nach dem Zuführen enormer Mengen an Dopamin fallen wir in ein Loch. Fühlen uns schlecht. Traurig. Antriebslos. Anstatt die Dopamin-Menge zu reduzieren und das Tief auszusitzen, damit sich der Körper wieder ausgleichen kann, schütten wir noch mehr Dopamin drauf. Bald sind wir in einem Sucht-Zyklus gefangen: Der Körper erholt sich nicht mehr, befindet sich in einem konstanten Tief. Wir brauchen immer mehr Reize, um uns noch gut zu fühlen, und sind viel schneller auf der negativen Seite. Aggressiver, müder, frustrierter, trauriger. Oder schlicht: taub. Lembke sagt, das Einzige, was helfe, sei radikale Ehrlichkeit mit sich selbst. Sich eingestehen, dass man süchtig sei, und danach handeln.
Vielleicht bist du nicht süchtig. Nicht so sehr wie andere. Vielleicht passiert es dir sogar selten, dass dein Handy deine Emotionsregulationsmaschine ist. Mir passiert das noch immer. Weniger oft als früher, nach all der Arbeit am Thema. Doch immernoch. Und auch das ist okay. Wichtig ist, dass du verstehst, was mit dir passiert. Dass du anfängst, schneller und klarer zu spüren, worum es im Grunde geht, gerade hier, gerade jetzt, in diesem Moment, in welchem du wieder eine App öffnest, obwohl du doch eigentlich…
Zuhören wolltest. Schlafen. Lesen. Träumen. Mit dir sein. Mit anderen.
Wenn du also um Mitternacht dein Smartphone checkst, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass du jetzt fühlen solltest, was du fühlen musst. Vielleicht sind es grosse Gefühle, die an deine Tür klopfen, Traurigkeit, Wut, Angst. Es kann sein, dass ein Gefühl dich besucht, das nur mitten in der Nacht an die Tür deines Herzens klopft, wenn es ruhig wird und die Welt schläft. Das ist nicht einfach. Aber ich verspreche dir: Es wird dir besser gehen, wenn du zuhörst. Wenn du Platz für all diese Gefühle schaffst. Sie sind hier, um dir etwas über dich selbst zu erzählen, über das, was du willst, über das, was du wirklich begehrst. Auf der anderen Seite der Trauer wartet die Hoffnung, und all die Tränen, die du für das weinst, was du zu verlieren fürchtest, sind die Tränen, die dir sagen, was dir am meisten am Herzen liegt. Also leg das Ding weg und weine.
In Liebe, bis bald, xoxo, Anna
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