Vom Tag, an dem mich die Zugschaffnerin aus dem Zug warf, weil ich die Airpods drin hatte.
Was das mit der immergleichen Frage zu tun hat, die mir alle stellen. Und woran du merkst, ob du digital achtsam bist.
Ich werde irgendwann, wenn ich vor Publikum auftrete, oder in Interviews sitze, immer noch diese eine Sache gefragt.
Die Frage lautet: Und, bist du jetzt digital achtsam?
Was die Leute eigentlich mit dieser Frage meinen, ist:
Hast du endlich deine Smartphone-Sucht überwunden, diese Obsession, die uns alle bewusst oder unbewusst einnimmt? Bist du jetzt digital erleuchtet? Bist du jetzt, nach all den Jahren Tipps und Tricks, einem ganzen Buch zum Thema, einem Kurs zum Thema, als Expertin, mit Workshops zum Thema, endlich digital achtsam? Und damit glücklicher?
Und?
Hast du es geschafft?
Und dann hole ich Luft und: enttäusche sie alle.
Weil ich sage: Nein, ich stecke noch immer mittendrin. Auch ich habe sie, die Momente, die Minuten, die Stunden, in denen ich digital abtauche, in Like-Vergleiche. In Email-Beantwortungszwang. In random scrollen, weil ich grade vermeiden will, vor die Tür zu gehen und meinen Körper zu bewegen. Auch ich bestelle auf Amazon, noch immer, und bin frustriert, wenn sie im Café um die Ecke dann nicht die grosse, endlose Auswahl haben, welche ich mittlerweile vom digitalen Raum gewöhnt bin. Es ist ein Prozess.
Heute bin ich per Zufall in den falschen Zug gestiegen, richtiges Gleis, doch einer zu früh, und bin dann am Hauptbahnhof Zürich mehr oder weniger schroff aus meiner digitalen Email-Beantwortungs-Effizienzspirale gerissen worden. Von einer Schaffnerin, die mir sagte: Sie sind die letzte noch verbleibende Person in diesem Zug, dreimal ging die Durchsage durch, Endstation, aber Sie, Sie müssen ja die Kopfhörer drin haben und Hauptsache, Sie laden Ihren Laptop.
Ich. Ausgerechnet. Ich, die sich digitale Achtsamkeit auf die Fahnen geschrieben hat. Hättest du mal aus dem Fenster schauen sollen und mal ohne Airpods unterwegs sein, lebe doch, was du predigst.
Doch ich glaube, das ist alles gar kein Widerspruch. Ich glaube, gerade, weil ich mittendrin bin, in dieser digitalen Realität, die so viele betrifft, auf genau diese Art und Weise, habe ich überhaupt die Erfahrungsebene, die es braucht, um mir Gedanken zu machen. Weil ich diese Realität von aussen wahrnehme, aber auch von innen.
Das Digitale wird nie wieder aus unseren Leben verschwinden. Das Digitale wird immer allumfassender sämtliche Bereiche unseres Lebens durchdringen. Gerade deshalb ist es umso dringlicher, uns zu fragen: Wie fühlst du dich mit all dem? Was macht das mit dir, was willst du so belassen, und wo willst du etwas ändern?
Vielleicht bedeutet digitale Achtsamkeit für dich nicht, immer aus dem Fenster zu schauen. Nie am Handy zu sein. Oder ChatGPT zu verteufeln. Weil die Airpods eben manchmal auch helfen, in einem vollen Zugabteil Reize einzudämmen, die auf dich einprasseln. Oder ich mich für Amazon als Buch-Link für meinen Ratgeber “verbunden” entscheide, weil das Buch in verschiedenen Ländern käuflich ist und Amazon nicht nur einen Link für alle bietet, sondern eben auch einen Einblick ins Buch und lange, tiefgründige Bewertungen von engagierten Leser*innen, die dir Orientierung geben. Das Digitale ist komplex, wie wir alle auch, und wir müssen immer wieder neu fragen, einordnen, entscheiden, werten, abwägen.
Es geht um das Bewusste daran. Die Entscheidung.
Wenn du digital achtsam bist, heisst das nicht, dass du alles perfekt machst. Sondern es bedeutet, dass du deinen Konsum reflektierst. Ihn in einen größeren Zusammenhang mit deinem Leben, Wirken und Wohlbefinden stellst. Dass du dir Fragen stellst, solche wie: Wie soll ein digitaler Raum aussehen, der Menschen Mut macht? Welche Grenzen musst und willst du in der täglichen Kommunikation setzen? Wie schützt du deine Gedankenräume vor Millionen Fremdeinflüssen? Welche Art der Social-Media-Nutzung ist moralisch vertretbar und mit deinen Werten im Einklang - wenn überhaupt?
Für mich bedeutet digitale Achtsamkeit, dass ich immer früher, sensibler und konstruktiver auf meine urges, meine automatisierten digitalen Hilfeschreie, reagiere. Dass ich Mitgefühl mit mir habe und immer genauer spüre, was eigentlich mit mir los ist, wenn ich digital gestresst bin. Dass ich mich frage: Okay, Anna, du hast jetzt fünfmal hintereinander Whatsapp geöffnet, obwohl du keine neuen Nachrichten erhalten hast. Was ist los? Ist dir langweilig? Vermisst du echten Kontakt? Braucht dein Körper Bewegung? Ist dir eine Aufgabe gerade unangenehm und du willst dich davon ablenken?
Dann hast du Alternativen. Dann spürst du dich und erkennst dich und deine Bedürfnisse und Hoffnungen und Ängste und hast Antworten darauf, zumindest eine Auswahl an Möglichkeiten, wie du dich auftanken, fokussieren, verbinden kannst. Das ist ein Prozess, und er läuft nicht perfekt ab, und auch ich kriege Panik, wenn ich mal offline bin, wie du auch, aber du kennst dich mit der Zeit immer besser und die Dopamin-Schleife und die Theorie und deine Lebensrealität und kannst das: einordnen und beeinflussen.
Oder, um es mit den Worten eines Kursteilnehmers zu sagen:
“Danke nochmals für den tollen Kurs und die Zoom-Sessions. Ich bin seither sehr zufrieden mit meiner Beziehung zum Digitalen und habe mehr Mitgefühl mit mir und schaue genauer hin, was unter dem Bedürfnis nach Ablenkung liegt.”
Darum gehts, unter anderem, vor allem, auch. Dich zu spüren, in dieser Realität. Und dann bewusst entscheiden zu können, was und wie du digital und analog leben willst.
Ich habe also meinen Laptop unter den Arm geklemmt, der Dame Danke dafür gesagt, dass sie mich aus dem Zug gezerrt hat und mir das richtige Gleis gezeigt, dann habe ich mit einem stillen Lächeln den Kommentar der Berufskollegin über mich ergehen lassen, dass ich ja wiedermal typischerweise so eine digitale Abschottungs-Type bin, die nur noch in Bildschirme starrt, statt Durchsagen wahrzunehmen, und mir gedacht: Zum Glück gibt es euch, wir kämpfen an der gleichen Front, ich war nur eben gerade nicht sichtbar eure Alliiierte.
Dann bin ich in den nächsten Zug gestiegen, habe den Laptop wieder aufgeklappt und diesen Text hier geschrieben.
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🙏 Anna. Das liebe ich sehr, diese Art von Road-Story. Eine Begebenheit, die nicht unbeachtet vorbeizieht, sondern aus dem Moment heraus Dinge und Situationen beleuchtet, die nur bei bewussterem Annehmen anklingen können. Als Reminder. Als Einladung, als Augenzwinkern. Als versteckte Möglichkeit, leicht oder auch mal mühsam lernend eine weitere Form meiner selbst zu werden 🙏❤️