Warum ich jetzt Fremde im Zugabteil grüsse.
Und was das mit meinem Nervensystem zu tun hat. Plus: Eine Leserinnen-Frage zu Youtube.
Ich habe kürzlich damit angefangen, etwas sehr Einfaches zu tun, etwas gar Banales: Ich grüsse jetzt immer den Menschen im gleichen Zugabteil wie ich. Ich mache das nicht bloss verbal, sondern ich achte darauf, dass ich Augenkontakt aufnehme, und dann lächle und nicke ich und heisse den Menschen willkommen. Manchmal geht das ganz leicht, weil die Person mich ansieht oder fragt, ob hier drüben noch frei ist und dann nicke ich und lache sie an und sage einen etwas netteren Beisatz, als nötig wäre. Manchmal muss ich ein paar Sekunden oder sogar eine Minute warten, weil das Gegenüber gar nicht damit rechnet, dass da noch ein Mensch ist, aber das macht nichts, ich warte dann einfach, und irgendwann, wenn die Person aufschaut, nicke ich, lächle, und begrüsse sie.
Das ist alles.
Vielleicht war es zu Beginn eine Art Experiment. Ich wollte schauen, wie weit ich mit Freundlichkeit komme, ob sich überhaupt noch jemand für diese Art von Kommunikation interessiert, für eine Kontaktaufnahme, in einem Land, in welchem Menschen, ich auch, gerne ihre Tasche auf den Nebensitz legen und bangen und hoffen, dass da ja niemand mehr kommt, der sich in meinen Raum setzen will. Wir fremdeln mit der Fremdheit der Menschen, vor allem im öffentlichen Raum, das hat sich, so scheint mir, in den letzten Monaten noch zugespitzt. Vielleicht ist es eine Mischung aus Pandemie und digitalen Abtauch- und Rückzugsmöglichkeiten, welche diese Art von Abschottung verstärkt haben. Aber mir scheint doch, dass es uns schwerer fällt, gemeinsam fremd und doch offen füreinander zu sein, einfach mal ins Gespräch zu kommen, einfach mal nebeneinander Platz zu nehmen, sich einfach mal grüssen, obwohl man nicht müsste.
Dabei sind solche Mikro-Gesten für unser Sicherheitsempfinden und Wohlsein sehr wichtig. In der Psychologie nennt sich das unter anderem Neurozeption, unser System scannt die Umgebung unbewusst permanent auf lauernde Gefahren oder positive Signale der Sicherheit. Und wenn wir in einen vollen Zug steigen und die Leute dicht aneinanderstehen und es laut ist, macht Zugewandtheit oder Ablehnung einen individuellen und kollektiven Unterschied. Kurz gesagt heisst das: Ehrliche Signale der Offenheit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Sicherheit geben uns Menschen Halt und Orientierung und tragen zur psychischen Gesundheit bei, weil wir uns dann in einem kollektiven Klima der Verbundenheit bewegen, und unser System das mitkriegt.
Mich interessiert das Konzept der emotionalen Sicherheit schon länger, diese Frage, wie, wann und warum wir uns in gewissen Situationen und mit gewissen Menschen gut fühlen und sicher und mit anderen nicht. Was ich selbst damit zu tun habe, wie ich selbst zwischenmenschlich emotionale Sicherheit schaffen kann und nicht nur körperliche. Und wann und wie mein Gegenüber, im öffentlichen aber auch privaten Raum, mich unsicher macht, mir ein ungutes Gefühl gibt, mich - vor allem als Frau - verletzlich und in Gefahr wähnend fühlen lässt. Und woran das liegt.
Aus irgendeinem Impuls heraus, mit diesen Themen und Fragen im Kopf, habe ich also vor ein paar Wochen mit diesem Grüssen angefangen, einfach mit irgendetwas, was ich beitragen kann, zu einer Art kollektivem Gefühl von Offenheit, und verblüfft festgestellt, dass die Stimmung in diesem kleinen Viererabteil immer sofort ändert. Dass dieser Raum ein wärmerer Raum wird und vor allem: ein sichererer. Nicht, dass er objektiv gefährlich wäre, es ist alles in Ordnung, wir leben in einem sicheren Land, das ist es nicht. Doch es ist diese Verbundenheit, die, wenn auch nur für ein paar Sekunden gelegt, eine Stunde anhält, und dem anderen wie auch mir das Gefühl gibt, gemeinsam unterwegs zu sein, mit einem freundlichen, zugewandten Menschen im gleichen Abteil, und das beruhigt das System.
Freundlichkeit, die keine sein müsste, Zugewandtheit in einem öffentlichen Raum, der so tut, als müssten wir alle still und in unseren eigenen Welten aneinander vorbeigleiten, weil diese Räume uns das immer stärker vorleben, ist innerhalb eines solchen Kontextes eine interessante Geschichte, wie ich finde. Weil sie im Grunde, oberflächlich betrachtet, zu nichts gut ist. Die Geste ist klein und beiläufig, sie ist so rasch wieder von der Verhaltensliste gestrichen wie der Imprägnierspray im Sommer. Und doch haben genau solche kleinen Dinge grosse Kraft.
Probier’ sowas doch auch in den nächsten Tagen, und schreib mir von deinen Erlebnissen. Machst du sowas auch? Würdest du nie? Beschäftigst du dich auch gerade mit emotionaler Sicherheit und kollektiven Fragen der Gemeinschaft und hast Lese- oder Hörtipps? Ich freue mich, von dir zu lesen.
Rubrik “Frag Frau Miller” - heute:
“Ich bin von Youtube so oft abgelenkt, was kann ich tun?”
Ich habe in einem meiner letzten Newsletter (vor Substack-Zeiten) dazu aufgerufen, dass mir Menschen gerne ihre Fragen und Probleme schicken sollen. An dieser Stelle beantworte ich Fragen aus der Community, zu allem, was euch interessiert.
Frau H. hat mir geschrieben:
“Liebe Anna
da ich Dein Buch noch nicht gelesen habe, würde ich mich sehr über ein signiertes Exemplar freuen.
Mein Problem sind Ablenkungen durch youtube. Da ich auch durch die Arbeit oft bei youtube bin (Lehrerin, ich zeige gerne kurze Videos), bin ich sehr schnell abgelenkt und verliere mich darin. Auch um abzuschalten abends schaue ich youtube und habe danach ein leeres und schales Gefühl.
Ich würde dies gerne ändern, schaffe es aber leider nicht so richtig...
Liebe Grüsse und vielen Dank für Deine Arbeit”
Liebe Frau H.,
Zuerst einmal: Youtube ist so aufgebaut, dass wir immer weiterschauen, das ist also nur parziell deine Schuld. Das klarer zu wissen, und auch bewusst wahrzunehmen, wann und warum du länger dort rumhängst als du vielleicht willst, ist ein wichtiger, erster Schritt.
Beobachte also erstmal, wann genau du in die “Youtube-Falle” tappst. Ist es während der Arbeitszeit? Ist es immer abends? Wann genau? An welchem Ort bei dir zuhause? Welches sind die Parameter? Oft ist es eine Kombination von Alleinsein, zuhause, dunkel, nix los, keine Alternativen, müde.
Mach dir den Teil in dir bewusst, der diese Youtube-Eskapaden eigentlich ganz toll findet. Weil er, wie du schreibst, “abschalten” kann. Je ehrlicher du mit dir sein kannst, darüber, dass du halt auch irgendwie dort rumhängen willst, weil es alles grad einfacher macht, und die Inhalte ja teilweise auch total toll und spannend sind, desto eher kannst du Abstand davon nehmen.
überleg dir, welche Art von “Entzugstyp” du bist: Kannst du mit weniger, oder musst du die Plattform für eine Weile ganz meiden? Entscheide, warum du weniger oder gar nicht mehr auf Youtube sein willst und denke dann darüber nach, wie du das konkret umsetzen kannst. Was auch bedeutet, dass du für deine Schüler*innen vielleicht anderweitig Material sammeln oder Videos auf einer anderen Plattform zeigen kannst. Ist ja alles möglich - Youtube ist nicht das einzige Lehrmittel dieser Welt.
Falls du weniger auf Youtube sein willst: Deaktiviere als Erstes alle Suchteinfluss-Mechanismen im Aussen, heisst: Automatische Wiedergabe deaktivieren, Vollmodus, damit du die weiterführenden Video-Ideen nicht alle siehst, Ausmisten der Leute und Kanäle, denen du folgst. Dann empfehle ich dir, für jedes Video, das du schauen willst, einen neuen Tab zu öffnen, so siehst du auf einen Schlag, wie viele Videos du eigentlich noch schauen wolltest. Setz dir anschliessend einen Timer (ich kann dir beispielsweise den Time Timer empfehlen, der dir visuell zeigt, wie lange du an was dran bist).
Überlege dir in einem nächsten Schritt aber vor allem: Wie möchte ich meine Abende gestalten? Was ist mir wichtig? Welches Hobby kann ich aufnehmen, wie viel sozialen Kontakt brauche ich? Wie fühle ich mich zuhause wohl und sicher? Brauche ich Musik?
Deponiere die digitalen Geräte, wann immer möglich, ausserhalb des Zimmers, in dem du dich gerade befindest, schalte sie nach Möglichkeit aus, und versuche, wenn du richtig Lust auf diese Youtube-Momente bekommst, zuerst etwas Analoges zu tun. Du kannst ja beispielsweise zuerst eine halbe Stunde lesen oder spazieren oder die Freundin anrufen und dann immernoch auf Youtube. Für den Anfang ist das total in Ordnung. So hast du das, was dir wichtig ist, schon gemacht und kannst dann entspannter beide Welten geniessen. Es ist nämlich, wie Cal Newport schon sagte, viel schwieriger, aus der Ablenkung in den Fokus zu wechseln als umgekehrt.
Du hast auch eine Frage aus dem Bereich digitale Achtsamkeit, mental health oder sonstwas, was du wissen willst? Schreib mir!
Ich habe seit Anfang Jahr meinen ersten Kurs zu Verbundenheit und digitaler Achtsamkeit lanciert - alle Infos zu deinen 30 Tagen hin zu mehr Verbundenheit mit dir, anderen und der Welt findest du unter diesem Link.
Mehr zu mir findest du unter www.anna-miller.ch.
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