Perfektionismus, sagt man, sei eine Schwäche. Ein übertriebener Anspruch. Eine Form von Selbstsabotage. Aber was, wenn er viel mehr ist? Was, wenn er ein Versuch ist, Ordnung ins Chaos zu bringen? Eine alte Strategie, um nicht wieder ohnmächtig zu sein?
Diese Folge ist kein Plädoyer für den Perfektionismus. Aber auch keines gegen ihn.
Sie ist eine Einladung, genauer hinzusehen.
Woher kommt er eigentlich – dieser Drang, besser zu sein?
Perfektionismus ist selten freiwillig. Die meisten von uns haben ihn nicht gewählt – er hat sich eingeschlichen. In die Art, wie wir denken, arbeiten, lieben. Oft schon früh im Leben, wenn wir Verantwortung übernehmen mussten, bevor wir bereit dazu waren. Wenn wir gespürt haben: Wenn ich nicht aufpasse, bricht etwas auseinander.
Perfektionismus ist der Versuch, Kontrolle über etwas zu gewinnen, das sich einst bedrohlich, willkürlich oder beschämend angefühlt hat.
Er entsteht dort, wo Überverantwortung war. Dort, wo du als Kind still werden musstest, weil das System dein Stören nicht ertragen hätte. Dort, wo wir gelernt haben, dass Fehler nicht korrigiert, sondern bestraft werden.
Und so entsteht ein Lebensgefühl: Ich darf keine Schwäche zeigen. Ich muss es richtig machen. Ich muss das besser machen.
Die stille Wut hinter dem Anspruch
Perfektionismus ist nicht immer bloss Fleiss, Stolz, Anspruch. Er ist oft auch stille Trauer. Wut, die sich einen Weg in Form von Ordnung bahnt. Eine Form der Selbstvermeidung, die gleichzeitig nach Liebe ruft.
Wer perfektionistisch ist, fühlt oft nicht, wie sehr er sich damit selbst entwertet.
Denn der Drang, alles besser zu machen, ist nicht neutral. Er sagt auch: So wie es ist, ist es nicht genug. Ich bin nicht genug. Und genau das ist der Schmerz: Die ständige Abwertung des Unfertigen. Des Echten. Des Lebendigen.
Und doch: Perfektionismus hat auch seine Schönheit
Ich habe vor ein paar Jahren ein Buch gelesen: The Perfectionist’s Guide to Losing Control von Katherine Morgan Schafler. Darin beschreibt die Autorin Perfektionismus nicht als Störung, sondern als Persönlichkeitsmerkmal. Als Gabe, die falsch kanalisiert zur Falle wird – aber richtig verstanden zu einer Kraft werden kann.
Perfektionismus, so Schafler, ist die Fähigkeit, den Gap zu sehen zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. Und den Drang zu haben, ihn zu schliessen.
Das hat mich tief berührt. Denn es erklärt:
Warum ich Räume sofort neu gestalten will.
Warum ich Ungenauigkeit nicht einfach stehen lassen kann.
Warum mein Blick oft zuerst aufs Unstimmige fällt – nicht aus Bosheit, sondern aus Sehnsucht nach Kohärenz.
Perfektionismus kann auch Ausdruck von Liebe sein
Wenn du sensibel bist, wenn du Sinn für Ästhetik hast, wenn du siehst, was andere übersehen – dann kann Perfektionismus auch ein Akt der Fürsorge sein. Für andere, für die Gemeinschaft.
Und dann wird aus der Schwäche plötzlich Potenzial:
Perfektionismus als ästhetisches Empfinden: Die Welt schöner machen, weil du sie schön fühlst.
Perfektionismus als moralischer Kompass: Dinge besser machen wollen – nicht um dich zu erhöhen, sondern um etwas Gutes zu hinterlassen.
Perfektionismus als Verantwortung: Nicht weil du musst, sondern weil dir etwas am Herzen liegt.
Der Preis des ewigen Bessermachens
Trotzdem hat Perfektionismus eine Schattenseite. Denn oft verwechseln wir unseren Anspruch mit unserem Wert. Und merken nicht, wie sehr er uns lähmt, trennt, ausbrennt.
Wenn wir denken, wir müssten alles perfekt machen, bevor wir überhaupt anfangen dürfen. Wenn da nie Zeit bleibt, für das Echte, die Familie, die Partnerschaft. Wenn wir immer noch mehr machen müssten - Sport, Meditation, der nächste. Auftrag, das nächste Projekt. Wenn wir glauben, geliebt zu werden nur für das, was wir leisten – nicht für das, was wir sind.
Wie wir heilen können – und warum es unperfekt beginnt
Heilung beginnt nicht mit dem perfekten Plan. Sie beginnt mit der Erfahrung: Ich darf etwas tun, das unvollständig ist – und trotzdem genug.
Es bedeutet, in Kontakt zu kommen mit dem Gefühl, das wir so lange vermieden haben: Ohnmacht. Enttäuschung. Scham.
Und zu merken: Ich kann das halten. Ich muss mich nicht perfektionieren, um wertvoll zu sein.
Diese Folge ist für alle Perfektionistinnen da draussen. Alle Achiever. Alle Leistungsträgerinnen. Alle mit Sinn fürs Detail. Alle, die nicht verstehen können, warum am Status Quo nichts geändert wird, obwohl doch so klar wäre, was zu tun ist.
Du kannst direkt hier in die Folge reinhören oder überall dort, wo du gerne Podcasts hörst: auf Spotify, Youtube oder Apple Podcasts.
💭 Reflexionsfragen für deine Woche
Gab es in deiner Kindheit Situationen, in denen du das Gefühl hattest, alles kontrollieren zu müssen?
Vielleicht war es laut um dich herum. Vielleicht war niemand da, der dich gehalten hat. Vielleicht hast du früh gelernt, dass Fehler gefährlich sind.Was genau möchtest du vermeiden, wenn du versuchst, etwas perfekt zu machen?
Ist es die Angst, falsch zu sein? Die Angst, übersehen zu werden? Die Angst, dass dich niemand ernst nimmt, wenn du nicht glänzt?In welchem kleinen Moment könntest du diese Woche unperfekt handeln – aus Liebe zu dir?
Und was würde das in dir auslösen? Trauer? Angst? Oder Erleichterung?
Zum Schluss:
Du darfst Details sehen. Du darfst deinen Sinn für das Bessere behalten. Aber du musst dich nicht verlieren auf dem Weg dorthin.
Perfektionismus ist dann heilend, wenn du ihn nicht mehr gegen dich richtest, sondern mit dir trägst.
Ich wünsche dir eine Woche voller unperfekter, aber echter Momente. Und dass du dich daran erinnerst: Du musst nicht besser sein, um genug zu sein.
xoxo, Lieblingsmensch!
Anna
Ich schreibe und spreche mit viel Herzblut und versuche damit, die Welt und unser Erleben ein bisschen besser zu machen. Unterstütze meine Arbeit mit einem Abo hier auf Substack, teile diesen Post, abonniere meinen Podcast und schreib mir gerne, was dich gerade beschäftigt! Ab und zu beantworte ich eure Fragen (anonym) in einer nächsten Podcast-Folge.
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